Errungenschaften feiern und Probleme angehen

26.10.18 –

Sven Giegold mobilisiert für Europa und gegen die Bedrohung von rechts

(heb) „Das werden sehr wichtige Monate“, betont der Grünen Europaabgeordnete Sven Giegold und meint die Zeit bis zur Europawahl im Mai kommenden Jahres. Der Sprecher der deutschen Grünen im Europaparlament und Obmann der grünen Fraktion im Ausschuss für Wirtschafts- und Finanzpolitik kommt auf Einladung des grünen Kreisverbandes Odenwald-Kraichgau direkt aus Straßburg. Sein Thema im Kulturhaus Wiesloch: ‚Europa statt Nationalismus‘.

„Extreme Rechte hassen das europäische Projekt, das erleben wir jeden Tag im Europäischen Parlament“, berichtet Giegold. Er warnt mit ernster Miene vor den Gegnern Europas, die mit Emotionen arbeiten und einfache Antworten versprechen in einer Welt, die sich mit immer höherer Geschwindigkeit ändert, die zunehmend komplex und vernetzt ist und in der der globale Wettbewerb schärfer wird. „Sie wollen sich hinter die nationalen Grenzen zurückziehen und die EU zurückstutzen“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler. Doch das sei nur eine Scheinlösung. Der Politiker macht deutlich: Probleme wie Steuerdumping oder Wirtschaftskriminalität lassen sich national nicht lösen. Für die Rechtpopulisten seien die Grünen das Hassobjekt schlechthin, da sie für das genaue Gegenteil einstehen: für Gleichberechtigung, Selbstbestimmung, Wahlmöglichkeiten und eine offene und tolerante Gesellschaft.

Zwei Dinge empfiehlt er, um den Europa-Gegnern Paroli zu bieten: „Erstens: Feiern was wir mit Europa erreicht haben und zweitens: uns den Problemen stellen und Antworten geben.“

Vieles scheint inzwischen selbstverständlich: 70 Jahre Frieden, freie Grenzen innerhalb Europas („über die unsäglichen Grenzkontrollen redet keiner mehr“), keine Roaming-Gebühren („was war das für eine Abzocke“) oder auch die Tatsache, dass zehn Prozent des Landes als Naturschutzflächen ausgewiesen sind.

Es gebe eine Million Erasmuskinder deren Eltern sich über das europäische Förderprogramm kennengelernt haben und die nun am gemeinsamen Familientisch sitzen. „Darüber müssen wir emotional reden!“, sagt er und fragt: „Warum hängt hier keine Europafahne?“

„Ein Europa, das für die Grundrechte eintritt, ist es wert verteidigt zu werden.“

Die Europäische Union wurde 1992 als Wertegemeinschaft gegründet, nicht als Interessensgemeinschaft, betont der Europaabgeordnete und verweist auf die europäischen Verträge und die Grundrechtecharta. Beitrittskandidaten müssen die strengen Kopenhagener Kriterien erfüllen, um Vollmitglied der EU zu werden. „Wer aber bereits Mitglied ist, kann machen was er will“, stellt Giegold mit Blick auf autoritäre Tendenzen in einigen osteuropäischen Mitgliedsstaaten fest.

Doch wie geht man mit anti-europäisch eingestellten Regierungen um? Die Grünen im Europaparlament wollen gegen Staaten, die in relevantem Umfang gegen diese Kriterien verstoßen, neue Sanktionsformen: Kommunen, Nichtregierungsorganisationen oder Unternehmen aus diesen Ländern sollten Anträge direkt in Brüssel stellen können. So würde das Geld weiterhin dort ankommen, wo es gebraucht und sinnvoll verwendet wird, aber die Vergabemacht läge nicht mehr bei den nationalen Regierungen.

Überall, wo Regierungen autoritär würden, gingen junge Menschen zu Tausenden mit Europafahnen auf die Straße und demonstrierten für europäische Werte. Wichtig sei, an einem Netz von unten zu knüpfen und die persönlichen Verbindungen der europäischen Zivilgesellschaft, etwa durch Partnerschaften, zu pflegen. „Wir dürfen uns das nicht kaputtmachen lassen - ein Europa, das für die Grundrechte eintritt, ist es wert verteidigt zu werden.“

Dabei gingen ihm die „Feiertagseuropäer“, die sagten, „Europa ist so toll, jetzt seid mal ruhig“, auch auf den Nerv. Stattdessen gelte es, über konkrete Probleme zu sprechen.

Dublin als die "Mutter aller Probleme"

Als ‚Mutter aller Probleme‘ beim Thema Flucht und Migration bezeichnet er das Dubliner Übereinkommen, wonach derjenige Mitgliedstaat den Asylantrag zu prüfen hat, in den der Flüchtling zuerst eingereist ist. Erst 2015 habe Deutschland angefangen, sich für eine faire Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU einzusetzen. „Das ist keine überzeugende Position“, so Giegold.

Zugleich kritisiert er den gescheiterten Versuch, Ungarn und Polen zur Aufnahme zu zwingen. Stattdessen unterstützen die Grünen den Vorschlag der Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan, wonach Kommunen oder Landkreise die Möglichkeit bekommen sollen, direkt von der EU Unterstützung zu bekommen, wenn sie Flüchtlinge aufnehmen. „Das würde die Konfliktlage umdrehen und diejenigen stärken, die sich solidarisch verhalten.“

Giegold spricht sich für eine gemeinsame geordnete Migrationspolitik und sichere und legale Zugangswege aus.  „Wir haben zwar ein Asylrecht, aber wenn man nicht illegal nach Europa einreist, hat man keine Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen“, stellt er fest. Über die Bekämpfung von Schleppern werde viel geredet, doch darüber, wie die Leute ihren Asylantrag stellen können ohne Schlepper zu bezahlen, höre man nichts. Wichtig sei auch festzustellen, wer Schutzrecht hat. „Das Recht haben wir."

Europäische Gemeinschaftsprojekte

Deutschland hat enorm profitiert vom gemeinsamen Binnenmarkt, doch in Südeuropa haben Arbeitslosigkeit und Armut stark zugenommen. „Wie kommen wir zu mehr Solidarität?“, fragt der Europapolitiker. Den Vorschlag eines europäischen Länderfinanzausgleichs hält er aufgrund fehlender Anreize für keine gute Idee. Stattdessen spricht er sich für europäische Gemeinschaftsprojekte wie den Ausbau des Stromnetzes und der erneuerbaren Energien sowie ein grenzüberschreitendes Eisenbahnnetz aus. Als europäisches Förderprogramm für Auslandsaufenthalte sollte das Erasmus-Programm nicht nur Studierenden, sondern auch Auszubildenden zugutekommen. „Das beste Programm gegen Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit“, wie er findet.

Mehr Europa – mehr Demokratie

Nach dem Willen der europäischen Grünen soll Europa noch demokratischer und transparenter werden. Etwa durch ein Lobbyregister, in dem die Abgeordneten offenlegen, mit wem sie sich treffen. Im Europaparlament gebe es jetzt schon mehr Transparenz als im Bundestag oder im Landtag, denn jede Ausschusssitzung lasse sich im Internet in der eigenen Sprache verfolgen. Laut Giegold sieht es beim Rat der Europäischen Union, in dem die Regierungen der Mitgliedsstaaten vertreten sind und der gemeinsam mit dem Europäischen Parlament als Gesetzgeber tätig ist, ganz anders aus. Die Ratssitzungen und die Protokolle seien nichtöffentlich. Und so könnten sich die nationalen Regierungen populäre Beschlüsse ans Revers heften und die unpopulären auf Brüssel schieben. Und das unabhängig davon, wie ihre Vertreter im Rat abgestimmt haben. Um das zu ändern und die Entscheidungen transparenter und damit demokratischer zu machen wollten die Grünen im Europaparlament erreichen, dass die Protokolle des Rates veröffentlicht werden.

Echte Finanztransaktionssteuer statt Kleine-Leute-Steuer

Im Europaparlament gebe es seit langem eine Mehrheit für eine echte Finanztransaktionssteuer, auch dank des Einsatzes der europäischen Sozialdemokraten, berichtet Giegold und ergänzt: „Dafür sind wir über 15 Jahre angetreten.“ Doch Finanzminister Olaf Scholz (SPD) benenne die Börsenumsatzsteuer einfach um in Finanztransaktionssteuer, obwohl nicht Aktien, sondern Derivate den Großteil kurzfristiger Börsengeschäfte ausmachten. Ohne die Besteuerung von Derivaten werde der Schaden von spekulativen Übertreibungen an den Finanzmärkten weiterhin auf die Gesellschaft abgewälzt. Es sei grotesk, dass gerade ein sozialdemokratischer Finanzminister die Finanztransaktionsteuer nun faktisch begraben wolle - er sei darüber „stinksauer“. „Lesen Sie die Packungsbeilage - ich nenne es Etikettenschwindel“, ärgert sich Giegold und betont: „Wir wollen keine Kleine-Leute-Steuer.“

Sinn für Steuergerechtigkeit fehle Olaf Scholz auch beim Thema Digitalsteuer. Die Einführung für Unternehmen wie Google und Apple lehne Scholz ab, die Internetgiganten sollen weiterhin nur einen Bruchteil dessen zahlen, was andere Unternehmen an Steuern berappen müssen. Deutschland bremse auch bei der auf EU-Ebene geplanten Umsatzsteuerreform, bei der es unter anderem darum geht, Betrügern das Handwerk zu legen.
„Schreiben Sie Herrn Scholz“, rät der Finanzexperte.

Fairer Freihandel

Nachdem die Zuhörer aufmerksam zugehört haben, gibt es viele Fragen. Beispiel Freihandel: „Was kann man tun gegen intransparente und unfaire Handelsabkommen?“ Die Bürgerbewegung habe alle in Brüssel überrascht, berichtet der Europaabgeordnete. „Das hat sehr wohl etwas bewirkt.“ Die Verfahren seien öffentlich geworden, nachdem er die Verhandlungsunterlagen geleakt habe, berichtet der Parlamentier. Die Substanz sei aber nicht geändert worden. „Ich habe nichts gegen Handelsabkommen, die fair sind und soziale und ökologische Standards beinhalten“, betont Giegold, der Mitgründer des globalisierungskritischen Netzwerks Attac ist. Globalisierung brauche ökologische und soziale Regeln. Bei Ceta, Jefta und dem Handelsabkommen Mercosur mit Südamerika, das durch billige Fleischimporte hiesige Bauern unter Druck setzt, sieht er aber ein Ungleichgewicht. „Das haben wir Grüne immer abgelehnt.“ Doch die Mehrheit aus CDU/CSU, SPD und FDP seien für diese Art Abkommen. „Dieses Problem müssen Sie als Wähler schon selbst an der Wahlurne regeln, das ist eben Demokratie“, stellt Giegold fest und schickt hinterher: „Gott sei Dank!“

Die Brüsseler Politik sichtbar machen

Die Europapolitik müsste viel mehr erklärt werden, fordert eine Teilnehmerin. In Deutschland gebe es eine aktive mediale Öffentlichkeit, aus Brüssel erführen die Bürger viel weniger, bestätigt Giegold. Es sei es schwierig, 500 Millionen Europäer durch mitreißende Reden zu erreichen. Das liege auch an der Sprachbarriere. Die Nation habe eine gemeinsame Sprache, Kultur und Geschichte als Kraftquelle – das fehle Europa.

Er selbst biete aber einen Newsletter an, in dem er als Sprecher der deutschen Grünen im Europaparlament über aktuelle Verhandlungen im EU-Parlament und die jeweiligen grünen Positionen berichte. Dieser werde sehr stark nachgefragt.

Brexit als abschreckendes Beispiel

Ein anderer ärgert sich, dass Rechtsnationale die Deutschlandflagge vereinnahmen. Ihnen müsste man sie wegnehmen und sagen: Das ist nicht eure Flagge, nicht euer Land. Doch damit tue sich die Linke schwer. Man könne die Deutschlandfahne mit Stolz schwenken, gibt ihm Giegold mit Blick auf des Hambacher Fest recht. Und er rät, gerade jetzt auch die Europa-Fahne hoch zu halten.

„Die Brexit-Gegner waren nicht laut genug“, mahnt Giegold mit Blick auf Großbritannien und nennt die Briten ein abschreckendes Beispiel. Die Versprechungen realisierten sich nicht, der Brexit sei noch nicht vollzogen. Angesichts der Mittel und der Art der Beeinflussung zieht er die Legitimität des Votums in Zweifel. „Wichtig ist, dass die Tür offenbleibt“, betont er.

Jubiläumswein für den Referenten

„Sven Giegold ist für uns immer noch ein Bindeglied zu sozialen Bewegungen“, sagt Moderator Rolf Gramm, der 25 Jahre Mitglied des Kreisvorstands war. Er sieht die Grünen als Gegenpol zu den Rechtpopulisten. „Wir diskutieren gerade das Europawahlprogramm und ein neues Grundsatzprogramm“, sagt er. Über den Input freut sich auch Gabriela Lachenauer, Vorstandsmitglied im Kreisverband Odenwald-Kraichgau und im Ortsverband Wiesloch. Für den engagierten und gehaltvollen Vortrag dankt sie dem Europaabgeordneten mit einer Flasche Jubiläumswein des KV Odenwald-Kraichgau 1982–2017.

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